Berndt Schulz:
Klaus Kinski - Freak in Samt und Seide


Ein Gesicht wie eine Wunde, die der Körper schlug. Sein Körper ist das Medium. Er speichert und verwandelt die ungelebten Leben von Film und Literatur zu einer Wundergeburt, einer Freak-Existenz. Kinski ist nicht Durchgang für die Figuren, die er verkörpert, sondern deren Gehäuse, in dem sie wie Gefangene rumoren, die nach einem Ausgang suchen. Dieser Kampf der imaginären Wesen zeichnet sein Gesicht, das wie aus Dunkelhaft das Freie schaut, zeichnet seine Körpersprache. Da bildet sich plastisch das Tohuwabohu seiner Bewohner nach, die in ihm wüten. Zitternder Mund. feuchte Augen, weit aufgespannte Sinne, er ist ein Seher der Innenwelten, als Januskopf Rasender und Meditierender zugleich.
Er kann alles darstellen, weil er alles in sich trägt: ein Kunstwerk mit der Transparenz unzählig übereinanderkopierter Bilder. Mit fliegendem Atem hetzt er durch seine Gesichte. Seine Sprache bricht wie ein Gewitter aus, grollt, murmelt, elektrisiert, läßt Peitschen knallen. Er ist ein rhetorischer Glasbläser, der die Formen wuchern läßt, Töne, die wie ein Vogelzug aufsteigen. Dieser Avantgardist der Artikulation kann das Luftholen zu mehr Ausdruck bringen, als ganze Monologe es vermögen. Stammeln und Keuchen als Kunstform, Sprache als schillerndes Mineral. Der brennende Dombusch hat die Stimme seines Herrn.
An ihm wirkt alles übersteigert. Ob Visionär, Magier, Schlafwandler, Besessener, Berserker, Frotomane. Narziß, Snob. Clown, Exhibitionist, Freibeuter oder Schrecken der Studios - er ist es ganz und gar. Dazu ein Hauch James Dean. ein Hauch Messias, von diesem und jenem Unhold eine Prise: die Duftnote der freien Wildbahn für dieses verhaltene Tier in Samt und Seide.
Der Hochleistungstyp hat es sich nicht leicht gemacht. er blieb ein Kämpfer gegen die Routine, auch gegen die eigene, ein Virtuose der permanenten Revolte gegen Erstarrungen. Als Provokateur gegen Tabus war er stets ein Mime, der den Umbruch signalisiert, ein Rhetor der erhabenen Niederungen, dessen Gesichter sich gegen den Wind der Verhältnisse drehten. Er wurde beschimpft. Provozierte das Gerede, den bösen Klatsch wie kein Zweiter. Dabei ist er ein Naiver und tragischer Träumer geblieben, ein Gefallener mit der Unschuld des absolut Amoralischen. Ein Grenzgänger zwischen Provokation und Idylle, Reinheit und Obszönität. Einer, der sich entblößt, weil das Leben ihn entblößte.
Heute lebt Kinski als Alchimist, der den Stein der Weisen zu seinem Denkmal bebaut. Dazu verführte ihn eine ausgemergelte Jugend, der er noch immer mit so viel Lebenshunger entflieht, daß er noch seine Autobiographie 1975 im Präsens schreibt. Sein Leben als Amoklauf beginnt mit einer lausigen Kindheit im Asphalt-Dschungel Berlins, wohin der 1926 Geborene als Dreijähriger, Sohn armer polnischer Eltern aus Zoppot, kommt. Mit fünf Angehörigen wächst er in einer Art Bretterverhau auf, den er selbst nie als Wohnung bezeichnen mochte. Er lernt das Stehlen und das Untertauchen. Mit fünf Jahren verschwindet er in einem Heim, wo er wenigstens satt wird. Vom Gymnasium wird er später gefeuert. Das Schulgeld verdiente er als Laufbursche, Schuhputzer, Straßenfeger, Kofferträger, als Leichenwäscher. Mit siebzehn 1944 zum Wehrdienst eingezogen, türmt er, wird gefaßt, entkommt aber den Hinrichtungskommandos. Er gerät in Gefangenschaft, wo er erfährt, daß die Eltern inzwischen umkamen. Leben ist für ihn Kampf ums Überleben, und er spekuliert mit einer paroxystischen Tat: "Ein einziger wirklicher Kampf und dann Schluß." Glücklicherweise beschließt er gleichzeitig, Schauspieler zu werden. Wenn schon leben, dann von jetzt an im Spiel.
Er beginnt am Kabarett bei Valeska Gert. Ersten Ruhm erntet er als Rezitator. 1949 spielt er Theater. In Cocteaus "Die menschliche Stimme" tritt er als Frau auf; das brachte Ärger. Das Stück wurde abgesetzt, die Querelen mit den verhunzten Verhältnissen begannen. Aber Cocteau sagte - und einige hatten es gehört: "Ich habe noch niemals so ein Gesicht gesehen."
Die fünfziger Jahre: Er bringt seine Villon-Versionen als zärtlicher Rabauke und Randalierer. Man kennt nun seine Stimme. Er beginnt, einen Film nach dem anderen zu drehen. Schlechte Filme - ihn interessieren nur die Gagen. Ob anspruchsvolle Vortragstournees oder der Edgar-Wallace-Ramsch im Studio: mit Geld will er seine quälenden Erinnerungen ausfüttern. 1955 unternimmt er einen Selbstmordversuch. Er produziert Liebesskandale und Verkehrsunfälle, Liebesskandale als Verkehrsunfälle. Verheddert sich in wahllosen Amouren: "Wenn ich ein Mädchen umarmte, habe ich doch immer schon an das nächste gedacht. Zur Zärtlichkeit war da keine Zeit. Ich mußte weiter, immer weiter." Er mußte sich verschwenden. Als er schoneinen Namen als Schauspieler hat, jobbt er als Ladearbeiter in Marseille, teilt alles mit den Huren des Hafens. Er reist um die Welt, will wissen, wer er ist, und hastet von Film zu Film. Verschenkt sein Geld mit beiden Händen, lebt großspurig wie ein Reicher - aber mit fanatischem Genuß. Für ihn wird alles Arbeit. Er ist ein Existentialist mit der Vorstellung, daß der Tod als unheilbare Krankheit in ihm frißt.
Mit einer Fassung des Neuen Testaments geht er wieder auf Tournee. Aber die "Jesus-Christus-Erlöser"-Schau führt in die Riesenpleite. Er läßt sich in Italien nieder, ist lange gefährdet, in Italo-Western unterzutauchen. In Rom mietet er ein 800 Jahre altes Palais an der Via Appia mit zehn Prunkgemächern, Brokat an Wänden und Fenstern, fünf Bädern. Fährt einen Rolls Royce mit Bar, Klimaanlage und Salonabteil. Kinski liegt außerhalb des Mittelpunktes der Erdachse, deren Drehungen ihn herumschleudern. Ein Kind, das in die Jahre kommt. Aber die Kellergeister seiner Kindheit rumoren noch immer in ihm.
Für eine an schreiender Normalität orientierte deutsche Filmindustrie der fünfziger und sechziger Jahre war er einfach der Irre vom Dienst. Ein Wallace-Krimi, austauschbar gegen alle, zeigt Kinskis Mimesis. Das Verrätertor (1964): Die Kronjuwelen werden geraubt. Kinski landet seinen Coup im Coup, macht sich mit der Beute davon und tappt in eine Falle. Das Ei, das er seinen geprellten Kumpanen legt, platzt ganz wörtlich. Er fliegt mit dem Fluchtschiff in die Luft.
Wie Kinski das spielt, paßt er ins Konzept der Produzenten. Seine Taten sind selbstbezogen. Mit jeder Rolle stellt er eine neue Weiche für triebökonomische Entgleisungen. Wenn er unbeschäftigt herumsteht: ein eitler Statist, der sich im Spiegel bewundert. Als dumpf brütender Infantiler lutscht er an seinen Fingern, leckt sich den Blutgeschmack von den Lippen, streichelt seine Kollektion von Stofftieren, kaut an Fingernägeln. Ermordet ohne Gefühl, aber mit Schalldämpfer - wie in Trance. Den Revolver handhabt er als Phallusprojektion eines objektschwachen Narziß. Im übrigen ist sein aufgewühltes Gesicht Ausweis genug für einen Mordverdacht.
An über 150 Filmen reizte ihn kaum mehr, als die Kasse neben die Kunst zu stellen. Im Widerspruch dazu sieht sich der Schauspieler Kinski als Märtyrer, der für sein Publikum verblutet. Es gab also Rollen, die ihn inspiriert haben. Dazu gehören der mit den Ketten rasselnde Anarchist Kostojed in Doctor Zhivago ("Doktor Schiwago", 1965), der zu Eis erstarrte Kopfgeldjäger Loco in II grande Silenzio ("Leichen pflastern seinen Weg", 1968), der Homosexuelle in der Rolle Richards III in L'Jmportant c'est d'aimer ("Nachtblende", 1974). In diesem Film bekennt er: "Was mich betrifft, ich liebe nur mich - und schon das ist nicht einfach!"
Das war sein Programm, das den Star oft als Interpreten verdunkelte. Aber in den letzten Jahren forderten ihn doch einige Filme heraus. Drei Arbeiten von Werner Herzog schienen wesentliche Züge des Schauspielers Kinski ins Scheinwerferlicht zu rücken.

Mit Aquirre, der Zorn Gottes (1972) begann diese Zusammenarbeit, die mit Fitzcarraldo (1981), einen in wesentlichen Zügen dem Aguirre ... verwandten, ihn aber nicht weiterführenden Film ihr vorläufiges Ende fand. Sie glich anfänglich einem Wettrüsten. Heute sagt Kinski: "Mit Werner verstehe ich mich telepathisch." Während der Dreharbeiten in Peru, nahe der Inka-Stadt Cuzco, wollte er ihn noch den Piranhas vorwerfen. Regieanweisungen des "Zwergenregisseurs" Herzog hielt er für eine Beleidigung. Täglich eine Tobsucht im Filmdorf und die Drohung: "Das wäre nicht der erste Film, den ich kaputtmache." Darauf erwiderte Herzog: "Dann kommen Sie hier nicht lebend heraus, ich jage ihnen eine Kugel durch den Kopf." Der Film kam schließlich zustande.
Peru: 156O/61. Pizarro und seine Conquistadores auf der Suche nach dem Goldland El Dorado. Don Lope de Aguirre rebelliert gegen die spanische Krone und führt einen Trupp versprengter Abenteurer die Quellflüsse des Amazonas hinunter. Er ist ein kleiner, buckliger Mann, der auf Pizarro, den Größeren, scheele Blicke wirft. An Macht und Ruhm ist er nicht mehr als an Gold interessiert. Über sich duldet er keinen, der ihm den Überblick versperrt: "Er ist einen Kopf zu groß. Das kann sich ändern." Mißtrauisch und verschlagen, im Kampf mit seinen Gebrechen und Übeln, ist er seiner Tochter ein zärtlicher Vater, der er lachend ein Faultier zum Geschenk macht. Gegen alle anderen, die nicht sein Fleisch und Blut sind, ist er mit seinen eruptiven Stimmungen nur eine verwachsene Kreatur in Stulpenstiefeln und Panzerhemd. Die Wut des Eroberers ist in seinen Körper gefahren. In seinem Gesicht, unter dem langen, strähnigen Haar, einem Gesicht wie die aufgeworfene Erde, an die er sich schmiegt, setzen sich Abenteuer und Laster ab. Er spricht seine Sätze nur halb, als Drohungen, aus, den Rest formulieren seine zuckenden Gesichtsmuskeln. Klaus Kinski spielt diesen tollwütigen Hund Aguirre mit dem kolonialen Größenwahn, der Natur und Ureinwohnern - dem schlechthin anderen - nur als Feind begegnen kann und noch im Tod den Machtzuwachs beschwört.
Als gespaltene Persönlichkeit, die Gut und Böse in sich vereint, eine tragische Figur, verkörperte Kinski darauf einen Vampir: Nosferatu -Phantom der Nacht (1978). Eine bizarre Erscheinung am Rand der Gesellschaft wie Kinski selbst, der dazu sagte: "Nosferatu ist eine Kreatur ohne freien Willen... in erster Linie ein Mensch, der entsetzlich leidet ... Ich bin Nosferatu."
Nach Murnaus Filmklassiker, dem Herzog mit plastischen Bildvisionen seine Ehrerbietung erweist, zitiert Kinski hier Murnau und dessen Hauptdarsteller Max Schreck zugleich. Er ist bleich, kahlköpfig, hohlwangig, ausgeblutet, mit langen Fingernägeln, zwei Reißzähnen, Lippen wie Lefzen und Fledermausohren - eine Führerfigur der Nacht, die mit den Wölfen heult. Depraviert nicht nur aus Blutmangel, sondern auch aus Liebesverlust. Lüstern nach Liebe, ohne Spiegelbild, sucht er den Spiegel der Liebe in einer reinen Frau, ohne die er nicht erlöst werden kann. Er ist ein sphärisches Wesen mit physischer Kraft, das im wehenden Umhang über den Marktplatz jagt, um sein Rendezvous nicht zu verpassen. Er hat die Traurigkeit von Jahrhunderten in der Stimme. Ein krankes Monster, das an der Zeit leidet: "Nicht altern können ist furchtbar. Der Tod ist das Wenigste."
Wenn Kinski hier seine Biographie auch verquer bearbeitet, war er doch als Vampir noch der Mann, der die erogenen Zonen der Frauen mit Pranken besetzt hält. Das war ihm, den das ewig Weibliche in alle Betten zog, ein Hauptproblem, das er heute, nach eigenen Bekenntnissen, mit seiner dritten Ehefrau, der Vietnamesin Minhoi, gelöst zu haben scheint. Einen exemplarischen Fall des Mißlingens erotischer Beziehungen verkörperte er in seiner dritten Arbeit mit Werner Herzog, als Woyzeck (1978).
Er spielte den Büchnerschen Antihelden, das Objekt seiner dünkelhaften Mitmenschen, zerquält, verbissen, in grauer Füsilieruniform, als kurzgeschorenen Gefangenen des Lebens. Sexuelle Beziehungen sind hier Herrschaftsbeziehungen. Kinski führt Unterdrückung als ein körperliches Geschehen vor. Steht unaufhörlich stramm. Zeigt das Exerzieren als Schmerz. Nur in seiner eigenen Stube kann er schnell ganz weich und sanft werden. Solange, bis die Marie sein Mißtrauen schürt, seinen Körper aufs neue versteinert.
Er versucht, die Hänseleien an sich abgleiten zu lassen, will die Verhältnisse, die ihn beleidigen, nicht fixieren und blickt auch an seinen Gesprächspartnern aus rotgeäderten Augen vorbei. Immer auf der Flucht vor dem nächsten Gewaltverhältnis, sieht er, halb abgewendet, in das Weite.
Sein Denken als Anstrengung, der Pein zu entkommen, verzerrt seine Züge. Er ist wehrlos, wehrt sich mit den falschen Mitteln. Zwar ist der Mord an Marie unter der Last der Strapazen seine Rekonvaleszenz, aber er zeigt auch intensiv, noch während er die Tat vollzieht, schon den Schrecken des Alleinseins danach.
In diesen Rollen reißt Kinski den Gestalten, die er verkörpert, die Seele aus dem Leib, um sie ihnen neu, mit dem Atem seiner Lebensgeschichte, einzuhauchen. Liebe, Tod und Teufel als Stimulans, wilder Inhalt, straffe Form: Er ist, Gott sei Dank, ein wirklich Verrückter, der die Wahrheit spricht. "Wenn ich gelogen habe, dann nur wie ein Gefangener einen Wärter belügt, damit er ihn besser niederschlagen kann." Noch immer stürmt er, Freak und Kellerkind, wenn auch in Samt und Seide, ins Freie.


© 1982 by Berndt Schulz

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