Klaus Geitel: Klaus Kinski


Mit Klaus Kinski ist Deutschland eigentlich nie recht fertig geworden. Nie vermochte es recht, ihn ans Herz zu drücken, was es doch sonst gern mit seinen Schauspielern tut, noch konnte es ihn abtun aus seinen Gedanken. Klaus Kinski beschäftigte seine deutschen Zuschauer in ihren Träumen - und mehr noch in ihren Alpträumen. Mit der Zeit entschloß es sich dann, mit Kinski zu leben. Es blieb ihm keine andere Wahl.
Klaus Kinski ist ein Dauer-Faszinosum des deutschen Sprechtheaters, und das Wort "Sprech"-Theater ist in seinem Falle mit Vorsatz gewählt. Kinskis Durchbruch in die Berühmtheit bei einem bis dahin gar nicht für möglich gehaltenen, riesigen Publikum, kam schließlich nicht auf der Bühne des Schauspielers, sondern auf den Podien des Rezitators zustande. Tatsächlich ist Kinski der erste und einzige Pop-Star deutscher Zunge, dem die eigene Sprache die einzig benötigte Musik war und blieb. Kinski brauchte nie zu singen. Sein Sprechen genügte. Das aber war in Deutschland zum letzten Mal bei Alexander Moissi, vor 100 Jahren geboren, der Fall.
Kinski aber benedeite nicht mit der Stimme. Im Gegenteil: er schärfte sie. Er griff nicht auf die Arien Moissis zurück, sondern auf den angeheizten Ausdruck des Expressionismus. Kein Wunder also, daß er für seine Rezitationen der aufsässigen Lyrik Villons nicht die braven wortgetreuen Übersetzungen wählte, wie sie die deutsche Romanistik bereithielt, sondern die unverschämten, dem französischen Original nur lose verbundenen Paul Zechs, des wüstsprachigen Ostpreußen, der gar nicht Französisch verstanden hatte, sondern sich aus seiner kraftstrotzenden Sprache seinen eigenen Villon wortmächtig zusammenbuk.
Kinski aber gab diesen Texten Autorität; eine ganz neue Glaubwürdigkeit, die jeden philologischen Einwand, jeden Zweifel an der Echtheit der Eindeutschung überrannte. Kinski rief, schrie, fluchte, geiferte, brüllte, hämmerte seinen Villon den betroffenen Zuhörermassen ein: ein Kanzelprediger der Anti-Bourgoisie, der ganz und gar unpolitischen, eher ästhetischen Attacke, des Bekennertums mehr als der revolutionären Aktion.
Kinskis Interpretationen liefen bei allem psychischen und physischen Engagement dennoch stets auf ein kulinarisches Ziel hinaus. Sein Vortrag wollte erfühlt, verstanden und gleichzeitig genossen sein in seiner üppig überschäumenden Sinnlichkeit, die aufs Ganze ging, den Menschen mit Haut und Haaren visierte, den Zuhörer zu packen versuchte um jeden Preis.
Das gelang Kinski denn auch auf geradezu einzigartige Art. Er wurde gewissermaßen zum Straßensänger des Sublimen. Er als erster, ein Volkstribun unter den Mimen, machte Straßentheater für jedermann in den riesigen Kinopalästen, den Sportarenen Berlins, später dann auch auf Tourneen kreuz und quer durch das deutsche Land. Kinski war so etwas wieder erste verlorene Sohn des deutschen Theaters. Man schlachtete ihm, wohin er auch kam, ein Kalb - allerdings warf man mitunter hinterher nach ihm mit den Knochen.
Kinski war kaum aufgetaucht aus den Strudeln des Nachkriegstheaters der zertrümmerten Hauptstadt des zertrümmerten Reichs, da begann er auch schon zu schockieren - und gleichzeitig zu faszinieren. Es war etwas exemplarisch Unbehaustes um ihn, das dennoch von der allgemeinen äußeren Unbehaustheit gründlich abwich. Kinski ging der realen Misere ganz und gar irreal auf den Grund. Er erfand sie. Sie wurde von ihm nicht gestaltet, sondern erst nachdrücklich in die Welt gesetzt. Kinski wies durch seine bloße Existenz darauf hin, daß die Zeit der oberflächlichen Befriedung ein für allemal gründlich vorbei sei. Er griff dabei zum Hilfsmittel der Exzentrik; zur Preisgabe, zum Opfergang, der allerdings keine Bindingschen Züge trug, sondern ausschließlich die Dostojewskijs. Und er war denn auch 1952 zu recht Fürst Myschkin, der "Idiot" Dostojewskijs in Tatjana Gsovskys Ballett zu Hans Werner Henzes Musik, für das später Ingeborg Bachmann ihre unvergänglichen Verse schrieb.
Um Kinski war von Anfang Skandal, und es wäre gelogen zu behaupten, er hätte ihn nicht forciert oder nicht genutzt. 1948 im Deutschen Theater in Ost-Berlin wollte er nicht aus dem Kostüm und der Rolle weichen, die man ihm in Langhoffs "Maß für Maß"-Inszenierung zuerst gegeben, dann wieder genommen hatte, weil Kinski allzu wörtlich dafür berühmt war, nicht Maß halten zu können. Als er in die Röcke der verlassenen Frau schlüpfte, um Cocteaus "Die menschliche Stimme", der Einakter der weiblichen Verlassenheit, darzustellen, griff auf Anweisung des Dichters die Militärregierung ein und zog Kinski zurück aus dem angemaßten Rock. Doch wer die Generalprobe des Ein-Personen-Stücks hatte sehen dürfen, spricht noch heute von Kinskis hysterisch anmutender Einzigartigkeit. Kinski verstand es auf jeden Fall, sich unvergeßlich zu machen.
Er spielte im noblen Berliner Schloßparktheater unter Willi Schmidts Regie in Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" den mörderischen Bruno, das Straßenkind mit den tiefliegenden blassen Augen; diesen Entwurf zu einem Verbrecher, der indessen zu töten verstand wie ein Alter. Er spielte in Cocteaus "Schreibmaschine", der Wiederbelebung der Antike aus spielerisch gallischem Geist. Er war unter dem großen Noelte die Hauptperson in Arthur Schnitzlers "Der grüne Kakadu". Dann aber kamen die mächtig hervorsprudelnden Rezitationen: die Kinski-Bibellesung, die einem Levitenlesen gleichkam; seine Baudelaire-Huldigung, sein Nietzsche-Hymnus, seine Oscar-Wilde-Exegese: eine Fülle von Unvergeßlichkeiten, die nicht Theatergeschichte, aber Kulturgeschichte gemacht haben. Kinski war seiner Zeit immer um gut zwei Jahrzehnte voraus.
Danach setzte er sich in den Edgar Wallace-Filmen künstlerisch erst einmal gründlich zur Ruhe. Er schien Frieden gemacht zu haben mit der Gage; doch der Schein trog. Unversehens wurde er zum Nachkömmling der dämonischen deutschen Film-Expressionisten, wie Conrad Veidt einer gewesen war. Kinski übte seinen kalten Terror in Western, er wurde über Nacht zum Superstar im neudeutschen Film: Werner Herzogs Held in den klassischen Rollen des "Woyzeck" von Büchner wie auch des "Nosferatu".
Kinski gruselt seitdem durch die Welt; einer der wenigen wichtigen und international erfolgreichen deutschen Schauspieler - immer bereit und immer fähig, aller Routine erneut die Nase zu drehen und ganz neue, aufregende Anfänge risikofroh zu wagen. Kinskis künstlerischen Beginn aber hat die Schallplatte festgehalten: Dokumente einer von Genialität umwitterten, überlebensgroßen Präsenz.

© 1980 by Klaus Geitel

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